Einleitung
Das Urteil des Obersten Gerichtshofs Spaniens (Tribunal Supremo) vom 11. April 2024 beschäftigte sich mit einem Problem, welches insbesondere bei älteren Eigentümergemeinschaften immer wieder in Erscheinung tritt. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob Teile des ursprünglichen Gemeinschaftseigentums, hier des Untergeschosses eines Gebäudes (ein halb-unterkellertes Stockwerk), welches die Einordnung als Gemeinschaftelement erfahren hatte, durch Ersitzung, zum Vorteil einzelner Eigentümer, in deren Sondereigentum umgewandelt werden konnte, bzw. bereits verwandelt wurde.
Es ging also um die Möglichkeit des quasi „leisen“, manchmal unbemerkten Eigentumsübergangs, von der Gemeinschaft auf den einzelnen Eigentümer, alleine durch Beachten oder Nichtbeachten einschlägiger Fristen.
In diesem Zusammenhang muss man sich vor Augen führen, dass das spanische Recht die in anderen Rechtsordnungen unbekannte Figur der sogenannten „Usucapión“ (Ersitzung) umfassend regelt, welche deshalb nicht nur von theoretischer Bedeutung ist, sondern jedes Jahr Anlass für zahlreiche Verfahren und Streitigkeiten gibt.
Der Verlust des Eigentums alleine deshalb, weil sich der Eigentümer nicht ausreichend um seine Rechte gekümmert hat, und ein Besitzer auf den Plan getreten ist, der in seiner Besitzanmassung nicht gestört wurde, ist also auch in der Praxis eine häufig vorkommende Realität.
Dies sorgt bei ausländischen Eigentümern gleichermaßen für Verwunderung und Sorge, da derartige Möglichkeiten für diese völlig überraschend kommen.
Um was geht es bei der Usucapión bzw. Ersitzung?
Die „Usucapión“ ermöglicht es dem Besitzer, wenn die einschlägigen Voraussetzungen vorliegen, zu denen insbesondere die längjährige, unwidersprochene Besitzanmaßung gehört, dem rechtmäßigen Eigentümer das Eigentumsrecht zu entziehen. Und dies gegebenenfalls alleine durch die langjährige, unbestrittene Inbesitznahme.
Wenngleich auch die Ersitzung einer freistehenden, vollkommen unabhängigen Liegenschaft möglich ist, wird gerade in Eigentümergemeinschaften diese Problematik besonders häufig aufgeworfen.
Denn durch Überbauungen, und ungenehmigte Erweiterungen verschwimmt schnell die nach außen sichtbare und nachvollziehbare Grenze zwischen Gemeinschafts- und Sondereigentum, und der Verlust des Besitzes der Gemeinschaft kann zunächst unbemerkt eintreten.
Worüber hatte das Gericht zu entscheiden?
Im gegenständlichen Fall, und deshalb ist dieser von besonderer Bedeutung, musste der Tribunal Supremo sehr grundsätzliche Fragen beantworten und mehrere Aspekte genau beleuchten, um entscheiden zu können, welche rechtlichen Voraussetzungen für eine mögliche Umwandlung durch langjährige Nutzung erforderlich sind. Trotz der allgemeinen Geltung des Instituts der Ersitzung, musste darüber geurteilt werden, ob tatsächlich an jedem Gemeinschaftselement eine Ersitzung eintreten kann, oder ob bestimmte Elemente hiervon kategorisch ausgeschlossen werden müssen. Ob also bestimmte Gegenstände, wie etwa spezielle Gemeinschaftselemente, vollkommen ungeeignete Gegenstände einer Ersitzung sein könnten.
Das Gericht hatte in diesem Zusammenhang also nicht nur sorgfältig zu prüfen, ob die betroffenen Parteien die allgemeinen Voraussetzungen (u.a. Besitz und ungestörte Ausübung desselben) der einschlägigen Ersitzungsnomen erfüllt hatten, sondern ob diese auf jede Art von Eigentum gleichermaßen angewendet werden dürfen.
Auch wenn der an der Ersitzung interessierte Eigentümer Teile des Gemeinschaftseigentums über einen sehr langen Zeitraum exklusiv genutzt hatte, war zu klären, ob zum Wohle des Schutzes des Gemeinschaftseigentums, weitere Voraussetzungen hinzutreten müssten.
Dabei ging das Gericht in einem ersten Schritt auch auf die verschiedenen Formen der Ersitzung ein, und schilderte die Unterschiede zwischen der sogenannten ordentlichen (Erwerb des Eigentums durch Besitz über einen bestimmten Zeitraum mit gutem Glauben und auf Grundlage eines Rechtsgeschäftes) und der außerordentlichen Ersitzung (Erwerb des Eigentums durch Besitz über einen längeren Zeitraum ohne guten Glauben bzw. ohne Rechtsgeschäft), um im Nachgang zu prüfen, ob insgesamt die Voraussetzungen für einen solchen Eigentumsübergang erfüllt waren.
Die von den Einzeleigentümern beanspruchte Ersitzung
Im konkreten Fall argumentierten mehrere Wohnungseigentümer, durch die angeblich eingetroffene Ersitzung Eigentum an Teilen des Untergeschosses erworben zu haben. Diese Eigentümer hatten ungestört Räume des besagten Untergeschosses des Gebäudes genutzt. Zu Beginn handelte es sich um einfache Hohlräume, die unter dem Boden der jeweiligen im Erdgeschoss befindlichen Sondereigentumselemente lagen. Im Laufe der Zeit wurden diese aber ausgebaut und exklusiv durch die über diesen lebenden Eigentümer der Erdgeschosswohnungen genutzt.
Diese Eigentümer behaupteten, endgültig durch ordentliche oder hilfsweise außerordentliche Ersitzung das Eigentum an diesen Räumen erworben zu haben. Sie klagten auf Feststellung ihres Eigentumsrechts und auf Nichtigerklärung derjenigen Beschlüsse der Eigentümerversammlung, die ihre behaupteten Rechte in Frage stellten.
Die Eigentümergemeinschaft bestritt den Eigentumserwerb durch Ersitzung und argumentierte, dass es sich bei den streitigen Räumen um wesentliches Gemeinschaftseigentum handle, das nicht durch Ersitzung erworben werden könne.
Rechtliche Einordnung zur Ersitzung von Gemeinschafteigentum
Der Oberste Gerichtshof orientierte sich in seiner Entscheidung an folgenden Aspekten:
Natur des Gemeinschaftseigentums: Das Gericht stellte fest, dass der Untergrund eines Gebäudes als wesentliches Gemeinschaftseigentum zu betrachten sei. Hierfür stützte sich das Gericht auf die Interpretation des Artikels 396 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches und den allgemeinen Inhalt des spanischen Wohnungseigentumsgesetzes. Hiernach sei, in Ermangelung einer anderen ausdrücklichen Regelung davon auszugehen, dass der Grund und Boden, sowie der Unterbau der Gesamtgemeinschaft dienen müsse.
Unmöglichkeit der Entwidmung: Als wesentliches Gemeinschaftseigentum könne der Untergrund nicht entwidmet oder in Sondereigentum umgewandelt werden, es sei denn, dies geschehe durch einen einstimmigen Beschluss der Eigentümergemeinschaft. Anders sei der Fall einzuordnen, wenn es sich um Gemeinschaftselemente handele, die lediglich eine Art Zubehör seien und die auch als Sondereigentumselement hätten konfiguriert werden können. Der Grund und Boden, welcher sich unter dem Gemeinschaftsgebäude befinde, seien aber kein Zubehör in diesem Sinne.
Voraussetzungen für Ersitzung: Das Gericht betonte, dass für eine erfolgreiche Ersitzung der Besitz in der Form des „animo domini“ (in der Absicht, Eigentümer zu sein) erforderlich sei. Eine bloße Duldung oder Tolerierung der Nutzung durch die Gemeinschaft reiche nicht aus.
Bedeutung der Teilungserklärung: Das Gericht wies außerdem darauf hin, dass die streitigen Räume in der Teilungserklärung nicht als Sondereigentum oder als Zubehör zu den Wohnungen beschrieben waren, was gegen einen rechtmäßigen Erwerb durch die Kläger spricht. Es sei also keine Ausnahme von den sonst geltenden Regelungen anzunehmen.
Entscheidung
Der Tribunal Supremo kam daher zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für eine Ersitzung nicht erfüllt seien. Die Nutzung der Räume durch die Kläger wurde deshalb als einfache Duldung einer Nutzung von Gemeinschaftseigentum eingestuft, nicht als Besitz mit der Absicht, Eigentümer zu sein.
Was bedeutet dies für Mitglieder einer spanischen Wohnungseigentümergemeinschaft und die Gemeinschaft selbst?
Diese Entscheidung stärkt die Rechte der Gemeinschaft und der übrigen, unbeteiligten Eigentümer, denn es unterstreicht vier wichtige Aspekte:
- Stärkung des Gemeinschaftseigentums: Das Urteil bekräftigt den besonderen Schutz des wesentlichen Gemeinschaftseigentums und erschwert dessen Umwandlung in Sondereigentum.
- Klarstellung der Ersitzungsvoraussetzungen: Die Entscheidung verdeutlicht, dass für eine Ersitzung mehr als nur eine lange, ungestörte Nutzung erforderlich ist. Es muss ein eindeutiger Besitzwille nachgewiesen werden.
- Bedeutung formaler Dokumente: Das Urteil unterstreicht die Bedeutung der Teilungserklärung und der Beschlüsse einer Eigentümerversammlung, und erschwert die Durchsetzung faktischer Zustände, wenn ihnen die rechtlichen Rahmenbedingungen fehlen.
- Einschränkung individueller Ansprüche: Die Entscheidung erschwert die einseitige Geltendmachung „schleichend“ erworbener Eigentumsrechte einzelner Mitglieder der Eigentümergemeinschaft. Dies auch dann, wenn eine langjährige Duldung bestand.
Welche wichtigen Fragen werden im Zusammenhang mit diesen Urteils, und im Hinblick auf eine Eigentümergemeinschaft, beantwortet?
1. Frage: Was ist der Unterschied zwischen ordentlicher und außerordentlicher Ersitzung im spanischen Recht?
Antwort: Die ordentliche Ersitzung (usucapión ordinaria) erfordert einen Rechtstitel bzw. ein Rechtsgeschäft und guten Glauben, während bei der außerordentlichen Ersitzung (usucapión extraordinaria) kein Rechtstitel bzw. Rechtsgeschäft erforderlich ist, aber eine längere Besitzzeit von 30 Jahren. In beiden Fällen muss der Besitz öffentlich, friedlich und ununterbrochen sein.
2. Frage: Kann Gemeinschaftseigentum in einer Wohnungseigentumsanlage überhaupt durch Ersitzung erworben werden?
Antwort: Grundsätzlich ist es sehr schwierig, Gemeinschaftseigentum durch Ersitzung zu erwerben. Wesentliches Gemeinschaftseigentum, wie der Untergrund eines Gebäudes, kann in der Regel nicht durch Ersitzung erworben werden. Bei nicht wesentlichem Gemeinschaftseigentum wäre theoretisch eine Ersitzung möglich, aber nur, wenn eine eindeutige Entwidmung durch die Eigentümergemeinschaft vorliegt und alle Voraussetzungen der Ersitzung erfüllt sind.
3. Frage: Welche Bedeutung hat die Teilungserklärung bei der Beurteilung von Eigentumsverhältnissen in Wohnungseigentumsanlagen?
Antwort: Die Teilungserklärung ist ein grundlegendes Dokument, das die Eigentumsverhältnisse in einer Wohnungseigentumsanlage festlegt. Sie definiert, welche Teile Sondereigentum und welche Gemeinschaftseigentum sind. Gerichte legen großen Wert auf die in der Teilungserklärung festgelegten Bestimmungen. Wenn ein bestimmter Bereich nicht als Sondereigentum oder Zubehör in der Teilungserklärung aufgeführt ist, spricht dies stark für die Annahme von Gemeinschaftseigentum, und erschwert damit die Durchsetzung möglicher Eigentumsansprüche durch einzelne Wohnungseigentümer.
4. Frage: Wie können Wohnungseigentümer vorgehen, wenn sie Teile des Gemeinschaftseigentums langfristig nutzen möchten?
Antwort: Wohnungseigentümer sollten eine formelle Genehmigung der Eigentümergemeinschaft einholen. Dies kann durch einen Beschluss der Eigentümerversammlung erfolgen, und sollte idealerweise einstimmig geschehen (im Einzelfall können auch einfache Mehrheiten ausreichen). Es ist ratsam, solche Vereinbarungen nicht nur schriftlich festzuhalten, sondern bereits langfristig zu planen und zu entwerfen. Gegebenenfalls sollte die Teilungserklärung auch im Grundbuch entsprechend geändert werden. Eine bloße Duldung oder stillschweigende Zustimmung reicht jedenfalls nicht aus, um Eigentumsrechte zu begründen.
5. Frage: Welche Konsequenzen hat das Urteil für Wohnungseigentümer, die bereits seit langer Zeit Teile des Gemeinschaftseigentums nutzen?
Antwort: Das Urteil macht deutlich, dass eine langjährige Nutzung allein nicht ausreicht, um Eigentumsrechte zu begründen. Wohnungseigentümer in solchen Situationen sollten ihre rechtliche Position überprüfen lassen. Es könnte notwendig sein, mit der Eigentümergemeinschaft zu verhandeln, um den Status dieser Nutzung zu klären oder zu formalisieren. In einigen Fällen könnte eine Kompensation an die Gemeinschaft erforderlich sein, um die Nutzung fortzuführen.
6. Frage: Wie wirkt sich das Urteil auf zukünftige Bauvorhaben oder Umbauten in Wohnungseigentumsanlagen aus?
Antwort: Das Urteil unterstreicht die Notwendigkeit, bei allen Bauvorhaben oder Umbauten, die Gemeinschaftseigentum betreffen, im Vorfeld die ausdrückliche Zustimmung der Eigentümergemeinschaft einzuholen. Zukünftige Projekte sollten sorgfältig geplant und dokumentiert werden, um spätere rechtliche Konflikte zu vermeiden. Es empfiehlt sich, solche Änderungen in der Teilungserklärung festzuhalten und gegebenenfalls im Grundbuch eintragen zu lassen.
Relevante Rechtsgrundlagen
· Artikel 396 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches (Código Civil): Definiert die Grundlagen des Wohnungseigentums und listet wesentliche Gemeinschaftsbestandteile auf.
· Spanisches Wohnungseigentumsgesetz (Ley de Propiedad Horizontal): Regelt detailliert die Rechte und Pflichten von Wohnungseigentümern sowie die Verwaltung von Wohnungseigentumsanlagen in Spanien (in Katalonien gelten hingegen die Regeln des 5. Buches des Código Civil de Cataluña).
· Artikel 1941 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches (Código Civil): Legt die Grundvoraussetzungen für die Ersitzung fest, insbesondere den Besitz in der Eigenschaft als Eigentümer.
· Artikel 1957 und 1959 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches (Código Civil): Definieren die Voraussetzungen für die ordentliche und außerordentliche Ersitzung, einschließlich der erforderlichen Besitzzeiten.
· Artikel 7 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches: Behandelt den Grundsatz von Treu und Glauben, der bei der Beurteilung des Verhaltens der Parteien eine Rolle spielt.